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Olli Lehto: Erhabene Welten. Das Leben Rolf Nevanlinnas.

[KORKEAT MAAILMAT. Rolf Nevanlinnan elämä. Otava, Helsinki 2001] [In finnischer Sprache, 317 Seiten, 73 Fotos]

Rolf Herman Nevanlinna (geboren am 22.10.1895 in Joensuu, gestorben am 28.5.1980 in Helsinki) war eine außergewöhnliche, charismatische Gestalt: weltberühmter Mathematiker, umstrittener Politiker und einflußreiche Kulturpersönlichkeit von enormer Ausstrahlungskraft. Der Autor des Buches kannte Nevanlinna mehr als 30 Jahre, zunächst als Student, später als Assistent und schließlich als Kollege. Neben den zitierten offiziellen Quellen waren die persönlichen Erinnerungen des Verfassers und viele private Informationen - insbesondere von Angehörigen Nevanlinnas - die Grundlage für die aus 11 Kapiteln bestehende und fesselnd geschriebene Biografie, die zahlreiche Fotos enthält. Bereits als junger Mann formulierte Nevanlinna seine Maxime: ,,Man muß das Leben der Arbeit widmen und demutsvoll, selbstvergessen danach streben, den erhabenen Welten näher zu kommen'' (S. 56). Das sind die erhabenen Welten, auf die der Titel des Buches anspielt.

Kapitel I: Familiärer Hintergrund. Der Leser erfährt die Ursprünge des Geschlechtes Neovius-Nevanlinna und lernt das gesellschaftliche Umfeld ab Beginn des 18. Jahrhunderts kennen. Der Stammvater Tuomas Tuomaanpoika vanhempi [,,Thomas Thomassohn sr.''] (geb. um 1710) war Küster der Kapellengemeinde Renko, andere Vorfahren väterlicherseits waren Pfarrer. Unter den Verwandten finden wir auch Offiziere, Politiker, Wissenschaftler, Juristen, Lehrer, Finanzfachleute und Geschäftsleute. Zahlreiche Familienmitglieder verschiedener Generationen waren (und sind) als Mathematiker tätig. Einer der Nachkommen des obengenannten Tuomas war Otto Wilhelm Neovius (1867-1927), der Vater von Rolf Nevanlinna. Die Mutter Margarete Romberg (1870-1955) stammte aus Berlin. Rolf, seine Brüder Frithiof (1894-1977) und Erik (1901-1973) und seine Schwester Anna (1896-1978) wuchsen in Joensuu im wesentlichen zweisprachig auf: zu Hause wurde Schwedisch, in der Umgebung hingegen Finnisch gesprochen. Die Mutter sprach jedoch auch Deutsch mit den Kindern. Die Familie zog 1903 nach Helsinki und nahm 1906 den Familiennamen Nevanlinna an. Nevanlinnas Vater war an einem Normallyzeum Oberstudienrat für Mathematik. Ernst Lindelöf (1870-1946) war weitläufig mit Rolf Nevanlinna verwandt. Es gibt es also doch, das Mathematik-Gen! In Rolf Nevanlinna vereinten sich mathematisches Genie und pädagogisches Geschick auf eine harmonische Weise, wie sie nur selten anzutreffen ist.

Kapitel II: Der Weg zum Forscher. Frithiof, Rolfs älterer Bruder, hatte sich bereits für die Mathematik entschieden. Durch Ernst Lindelöf, der Nevanlinnas einziger bedeutender akademischer Lehrer war, kam auch Nevanlinna zur Mathematik. Lindelöfs Einführung in die Höhere Analysis hatte einen entscheidenden Einfluß auf die Berufswahl von Rolf Nevanlinna. Ernst Lindelöf war einer der zeitgenössischen Helden Nevanlinnas - der Komponist Jean Sibelius (1865-1957) ein anderer. Es ist das Verdienst Lindelöfs, daß die Funktionentheorie in Finnland zum zentralen Forschungsgegenstand wurde, dem auch Nevanlinna bis in die 50-er Jahre die Treue hielt. Als Schüler von Weierstraß hatte Gustaf Magnus (,,Gösta'') Mittag-Leffler (1846-1927), der 1877-1881 Professor in Helsinki war, die Funktionentheorie nach Finnland exportiert. Lindelöf und seine Schüler begründeten die weltberühmte finnische Schule der Funktionentheorie. Nevanlinna promovierte 1919 mit einer Dissertation (Über beschränkte Funktionen, die in gegebenen Punkten vorgeschriebene Werte annehmen), aufgrund der man ihm eine erfolgreiche Forscherlaufbahn vorhersagen konnte. Diese Arbeit war jedoch nicht so eine Sensation, wie die ca. zehn Jahre später verfaßte Dissertation seines Schülers Lars Ahlfors (1907-1996). Aber die Dissertation und die drei darauffolgenden Arbeiten machten den Namen Nevanlinna international bekannt.

Der Erste Weltkrieg führte zu einer Reihe von tiefgreifenden Umwälzungen, die in starkem Maße auch Finnland berührten. Der lange Kampf um die nationale Selbstbestimmung war erst 1917, nach der russischen Oktoberrevolution, von Erfolg gekrönt: das Land, das zuvor russisches Großfürstentum war, hatte am 6. Dezember (heute Finnlands Nationalfeiertag) seine staatliche Unabhängigkeit erklärt und diese am 31. Dezember 1917 auf Beschluß des Sowjets der Volkskommissare auch erhalten. In der Folgezeit kam es jedoch zu erbitterten Kämpfen zwischen Roten und Weißen und zu einem blutigen Bürgerkrieg, der traumatische Nachwirkungen hatte.

Kapitel III: Wissenschaftlicher Durchbruch. In den 20-er Jahren widmete sich Nevanlinna ganz der Mathematik und legte den Grundstein für seine wissenschaftlichen Erfolge. Im großen und ganzen war er in dieser Zeit ein passiver Betrachter der politischen Ereignisse gewesen; erst in den 30-er Jahren begann er, ein tieferes Interesse an außermathematischen Dingen zu entwickeln. Jedoch hatte er sich bereits vor 1920 rechtskonservativ engagiert, was aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Oberschicht der Gesellschaft fast selbstverständlich war.

Das Jahr 1922 war ein Wendepunkt im mathematischen Leben Nevanlinnas. Er begann mit seinen Untersuchungen zu Fragen der Wertverteilung analytischer Funktionen. Seine im Laufe der folgenden drei Jahre erzielten Ergebnisse begründeten einen neuen Zweig der Funktionentheorie, der später als Nevanlinna Theory bezeichnet wurde und unter diesem Namen in der Mathematics Subject Classification zu finden ist. Hermann Weyl (1885-1955) nannte Nevanlinnas Werk eine der großen mathematischen Theorien des 20. Jahrhunderts - ,,ex septentrionibus lux''!

Nevanlinna war 26 Jahre alt, als er die Probleme der Wertverteilung zu untersuchen begann. Bei der Wahl dieser Richtung war er von Ernst Lindelöf beeinflußt, der sich viele Jahre früher ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt hatte. Rolf Nevanlinna begann diese Forschungsarbeiten zusammen mit seinem Bruder Frithiof. Der berühmte Satz von Picard war von einer mystischen Aura umgeben: beim kurzen Beweis dieses Satzes trat die elliptische Modulfunktion als deus ex machina auf. Die beiden Polarsterne Rolf und Frithiof brachten Licht in die Dunkelheit: sie hatten zwar noch keine Vision einer umfassenden Theorie, aber ein unbestimmtes Gefühl, daß in bezug auf den Picardschen Satz noch nicht das letzte Wort gesprochen war. In einer gemeinsamen Arbeit (Über die Eigenschaften einer analytischen Funktion in der Umgebung einer singulären Stelle oder Linie, Acta Soc. Sci. Fenn. 50:5 (1922) 1-46) formulierten die Brüder die Grundlagen der Wertverteilungslehre. Gábor Szegő (1895-1985) schrieb über diese Arbeit: ,,Besonders reizvoll wirkt an diesen Untersuchungen, außer ihrer geradezu klassischen formalen Eleganz, die Abgeschlossenheit der Resultate und die Einfachheit der befolgten Methode''.

Den weiteren Weg ging Rolf allein, wobei er stets die Wichtigkeit des Einflusses seines älteren Bruders Frithiof hervorgehoben hat. Frithiof hingegen betrachtete sich lediglich als Adjutanten von Rolf. Man kann wohl zu Recht sagen, daß die Nevanlinna-Theorie die Theorie Rolf Nevanlinnas ist; der Anteil von Frithiof, der sich nicht mehr genau klären läßt, darf jedoch nicht unterschätzt werden. Rolf Nevanlinna schuf seine Theorie innerhalb von drei Jahren neben einer ganztägigen Verdienstarbeit, ohne Universitätsstelle, Freisemester, Unterstützungsgelder u.a. - eine heute nur schwer vorstellbare Leistung. Die Theorie der Wertverteilung der meromorphen Funktionen findet in zwei fundamentalen Sätzen Niederschlag, die man heute als Nevanlinnasche Hauptsätze bezeichnet. Lehto gibt eine verbale Beschreibung dieser Sätze und ihres mathematischen Hintergrundes, verzichtet aber im vorliegenden Buch gänzlich auf formale Darstellungen.

Jahrelang drehten sich Nevanlinnas Gedanken um die von ihm geschaffene Theorie und er wurde sozusagen zum Gefangenen seiner eigenen Ideen. Als Gegengewicht zur Gefahr der Einseitigkeit diente ihm die Musik, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitete. Er genoß Musik nicht nur passiv, sondern spielte gerne mit seiner Geige, zum Beispiel Werke von Mozart, Beethoven und Brahms. Die fast ausschließliche Hinwendung zur Funktionentheorie dauerte nicht länger als ein Jahrzehnt. Bereits in der zweiten Hälfte der 20-er Jahre erwachte in Nevanlinna das Interesse für andere mathematische Gebiete und für philosophische Fragen der Mathematik. In den 30-er Jahren begann er, sich intensiver mit gesellschaftspolitischen und kulturpolitischen Fragen zu befassen.

1924 unternahm Nevanlinna seine erste wissenschaftliche Auslandsreise nach Göttingen. 1926 reiste er nach Paris, was für ihn besonders interessant war, da dort die Grundlagen für seine Theorie geschaffen worden waren. Er traf Émile Borel (1871-1956), der ihn bat, in der Reihe Collection Borel ein Buch zu veröffentlichen. Die 1929 erschienene Monografie Le théorème de Picard-Borel et la théorie des fonctions méromorphes war das erste Buch Nevanlinnas. Dieses Buch machte ihn in der Fachwelt noch bekannter und wäre der Gipfelpunkt seiner Leistung geblieben, hätte er es nicht durch sein 1936 erschienenes Werk Eindeutige analytische Funktionen in den Schatten gestellt.

In der Zeit des intensiven mathematischen Schaffens wurden in der 1919 geschlossenen Ehe von Rolf und Mary (geb. Selin) die drei Söhne Kai, Arne und Harri und die Tochter Sylvi geboren. In den 30-er Jahren gab es erste Anzeichen dafür, daß sich das Ehepaar voneinander zu entfremden begann. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es dann wirklich zur Scheidung gekommen. Beigetragen haben dazu wohl auch die Anziehungskraft, die Nevanlinna auf andere Frauen ausübte, seine Eskapaden und Seitensprünge. 1958 heiratete er erneut, aber das Privatleben des Charmeurs ist wohl nie in ein ganz ruhiges Fahrwasser gemündet. Seine zweite Frau, Sinikka Kallio-Visapää (1914-2002), machte sich einen Namen als Dichterin, Buchautorin und Übersetzerin von Werken der deutschen Literatur (Goethe, Thomas Mann, Rilke u.a.). Aus der Verbindung von Rolf und Sinikka ging die 1946 geborene Tochter Kristiina hervor; zu diesem Zeitpunkt war Nevanlinna offiziell noch mit seiner ersten Frau, Sinikka hingegen mit einem anderen Mann verheiratet.

Kapitel IV: Junger Professor. Im Herbst 1922 wurde Nevanlinna zum Dozenten der Universität Helsinki ernannt. Die Devise für seine Lehrtätigkeit war: Einfluß nehmen und andere begeistern. Charakteristisch für seine Herangehensweise an die verschiedensten Aufgaben ist der von ihm immer wieder betonte untrennbare Zusammenhang zwischen ratio und emotio. Nevanlinna hatte seine Fähigkeiten als Vortragender bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Während seiner vier Jahre als Dozent hielt er Vorlesungen und Übungen zu fast allen obligatorischen Kursen.

1926 wurde Nevanlinna zum Professor berufen: im Alter von 31 Jahren erhielt er den neueingerichteten zweiten Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Helsinki. Als Dozent war er zuvor an Lindelöfs Leine gekettet, aber nun war er zum Kollegen geworden, obwohl Lindelöf auch weiterhin der patriarchalische Institutsleiter blieb. Auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Lindelöf und Nevanlinna blieb bestehen: z.B. reichte Nevanlinna seine Manuskripte erst dann zur Veröffentlichung ein, wenn Lindelöf sein Placet gegeben hatte.

In den 20-er Jahren begann Nevanlinna, sich für die Relativitätstheorie zu interessieren. Die Theorie war in Finnland bis dahin weitgehend unbekannt, obwohl der Finne Gunnar Nordström ähnliche Gedanken propagiert hatte. Nordström und Lindelöf erweckten das Interesse Nevanlinnas für die Einsteinsche Lehre. 1926 hielt Nevanlinna einen Vortrag, der Fragen der Relativitätstheorie berührte. Einsteins Theorie war damals eine Riesensensation und führte zu wissenschaftlichen, aber auch zu weltanschaulichen Disputen. Hjalmar Mellin, Mathematikprofessor an der Technischen Hochschule Helsinki, war ein Gegner der Relativitätstheorie und ihres gefährlichen Schöpfers: Mellin hatte das Pamphlet Hundert Autoren gegen Einstein (Berlin 1931) mitunterzeichnet. In Finnland hatte Mellin eine Anti-Einstein-Veröffentlichung in einer Schriftenreihe der Finnischen Akademie der Wissenschaften [Suomalainen Tiedeakatemia - nicht zu verwechseln mit der Akademie Finnlands, von der weiter unten noch die Rede sein wird] angestrebt. Nevanlinna, der bereits 1924 zum ordentlichen Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden war, trug möglicherweise durch sein Gewicht in der Diskussion dazu bei, daß diese Veröffentlichung und somit ein Skandal verhindert wurde. Es heißt (S. 83), Mellin habe daraufhin Nevanlinna beschuldigt, ein Handlanger der Juden zu sein. Nevanlinna gehörte jedenfalls zu denjenigen, die die Bedeutung der Relativitätstheorie sehr früh erkannt und verteidigt haben. Später veröffentlichte er das Buch Suhteellisuusteorian periaatteet [Die Prinzipien der Relativitätstheorie, Helsinki 1963].

Bereits im zweiten Jahr seiner Professur hielt Nevanlinna 1927/28 eine Spezialvorlesung über die axiomatischen Grundlagen der Geometrie. Er hatte schon immer ein tiefes Interesse für dieses Gebiet und kam später öfter darauf zurück. Seine diesbezüglichen Vorlesungen erschienen unter dem Titel Geometrian perusteet [Grundlagen der Geometrie], als Nevanlinna fast 80 Jahre alt war. Das Buch wurde auch in deutscher Übersetzung herausgegeben. Im übrigen hat Nevanlinna viele seiner Bücher unmittelbar in deutscher Sprache verfaßt.

Auf Vorschlag von Hermann Weyl wurde Nevanlinna für das Wintersemester 1928/29 an die ETH Zürich eingeladen. Ein Jahr zuvor hatte Weyl zusammen mit zwei anderen Professoren an der ETH ein Seminar über die Wertverteilungstheorie gehalten. Weyl hatte inzwischen einen Ruf nach Göttingen als Nachfolger Hilberts erhalten und die ETH bot Nevanlinna den frei gewordenen Lehrstuhl an. Nevanlinna lehnte das Angebot ab und erwähnte als Gründe seine Loyalität gegenüber der Universität Helsinki; außerdem wolle er nicht, daß seine kleinen Kinder in einer fremden Umgebung aufwachsen.

Zusammen mit Nevanlinna war auch dessen 21-jähriger Schüler Lars Ahlfors mit nach Zürich gekommen. Nevanlinna behandelte in seinen Vorlesungen in Zürich die von Denjoy 1907 aufgestellte Hypothese, die später von Ahlfors bestätigt wurde. Auf dem ICM Oslo 1936 erhielt Ahlfors im Alter von 29 Jahren die erstmalig vergebene Fields-Medaille. In seiner Laudatio über den Preisträger sagte Constantin Carathéodory (1873-1950): ,,Ahlfors ist einer der glänzendsten Vertreter der berühmten finnischen Schule der Funktionentheorie... Seine Lehrer waren Ernst Lindelöf, der Begründer der finnischen Schule, und Rolf Nevanlinna, dessen Theorien die gesamte Forschungstätigkeit von Ahlfors beeinflußten''. Ahlfors war nicht der einzige, der Nevanlinnas Theorie zu seinem Forschungsgegenstand gemacht hat. Vor allem tat dies auch Nevanlinna selbst. 1936 erschien in der gelben Reihe von Springer die Monografie Eindeutige analytische Funktionen, das mathematische Hauptwerk Nevanlinnas und einer der Klassiker der Funktionentheorie. Diese monumentale Monografie enthielt auch neue Resultate, aber in erster Linie stützte sich Nevanlinna auf seine Ergebnisse früherer Jahre. In den 30-er Jahren hatte er in Bezug auf die Forschung seine Sturm-und-Drang-Periode abgeschlossen.

Kapitel V: Der Professor als Mensch. Bereits in jungen Jahren war Nevanlinna über seine Verwandten mit zahlreichen Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern und anderen einflußreichen Persönlichkeiten bekannt geworden. Nach seiner 1926 erfolgten Berufung zum Professor verfestigte sich in den akademischen Kreisen Finnlands die Meinung, daß er eine internationale Berühmtheit ist und dieser Ruf konsolidierte sich auch außerhalb der Universität. Im Alter von knapp 30 Jahren wurde Nevanlinna in Finnland zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Seine Kontaktfreude, Aufgeschlossenheit und positive Einstellung gegenüber anderen Menschen erhöhten seine persönliche Ausstrahlungskraft. Gastfreundlichkeit, Freigebigkeit und Hilfsbereitschaft waren charakteristisch für Nevanlinnas Umgang mit anderen Menschen.

Diese Hilfsbereitschaft zeigte sich insbesondere auch im Verhältnis zu seinen Doktoranden (insgesamt betreute er über 40 Dissertationen) und anderen vielversprechenden jungen Talenten, die am Anfang ihrer Forscherlaufbahn standen. Ein wichtiges Instrument seiner Unterstützungspolitik bestand darin, jungen Mathematikern Gelegenheiten zu vermitteln, im Ausland zu lehren oder zu forschen. Hierbei kam ihm das Netzwerk seiner persönlichen Beziehungen zugute, das im Laufe der Jahre immer umfassender wurde. Nevanlinna unterstützte jedoch nicht nur den wissenschaftlichen Nachwuchs. Er war auch im Rahmen der Schulmathematik aktiv und gab zahlreichen Schülern Privatunterricht - immer bestrebt, die Grundprobleme des zu unterrichtenden Stoffes klar darzulegen. Er war sich der familiären Traditionen bewußt: ,,Wir Nevanlinnas haben eine Manie für die Lehrtätigkeit''. Dabei unterließ er es nicht, trendige Modeströmungen zu geißeln, die unter Reizwörtern wie New Math und Nieder mit Euklid! firmierten. Als begnadeter Vortragender, der sein Publikum in freier Rede zu fesseln verstand, war er auch ein gesuchter Mann für Ansprachen bei Geburtstagen, Beerdigungen und anderen festlichen Angelegenheiten.

Wir erfahren in diesem Kapitel weitere Einzelheiten über die Lebenswege der Kinder Rolf Nevanlinnas und das gesellschaftliche Leben der Familie. Keines der Kinder und Enkelkinder von Rolf Nevanlinna ist Mathematiker geworden, aber das Mathematik-Gen ging vom Bruder Frithiof Nevanlinna und von der Schwester Anna (verh. Haahti) auf die nachfolgenden Generationen über: Frithiofs Sohn Veikko Nevanlinna, sein Enkel Olavi Nevanlinna (Sohn des Frithiof-Sohnes Eino) und Annas Sohn Heikki Haahti wurden Mathematiker.

Kapitel VI: Politische Bekehrung. Die 20-er Jahre waren für Nevanlinna eine Zeit, in der die Mathematik seine geistigen Kräfte vollständig in Anspruch nahm, so daß - außer für Musik - kaum Zeit für irgendetwas anderes blieb. Er befaßte sich nicht weiter mit gesellschaftlichen Problemen, aber in den 30-er Jahren änderte sich seine Einstellung. Die Schockwellen des Börsenkrachs vom Oktober 1929 und die Weltwirtschaftskrise hatten zu großen politischen Verwerfungen geführt, von denen auch Finnland nicht verschont blieb.

Die erste gesellschaftliche Frage, die Nevanlinna bewegte, war das Verhältnis zwischen der finnischen und der schwedischen Sprache. Einer seiner echt finnischen Vorväter hatte Schwedisch zu seiner Sprache gewählt und über fünf Generationen wurde in der Familie Schwedisch gesprochen. Noch der Vater von Nevanlinna sprach zu Hause hauptsächlich Schwedisch, hatte sich aber eine finnische Gesinnung zu eigen gemacht. Für Nevanlinna wurde das Finnische zur ersten Sprache.

Die uralte Sprachenfrage war bereits im 19. Jahrhundert zu einem Sprachenkampf geworden, der das Volk bis in die 30-er Jahre des 20. Jahrhunderts teilte. Es gab zwei zueinander entgegengesetzte Richtungen: die finnischsprachige Linie (,,Ein Volk, eine Sprache'') und die schwedischsprachige Linie (,,Zwei Völker, zwei Sprachen''). Die Universität Helsinki wurde zum zentralen Kampfplatz dieser Auseinandersetzungen: Nevanlinna stand also inmitten der Feuerlinie. Er war zwar kein Fundamentalist, strebte aber tatkräftig danach, die Stellung der finnischen Sprache an der Universität zu verbessern. Der Sprachenkampf endete faktisch mit dem Kompromiß ,,Ein Volk, zwei Sprachen''.

Die Universität bot in den 30-er Jahren Möglichkeiten zur Entfaltung politischer Aktivitäten. Nevanlinnas Tätigkeit als Dekan 1933-1936 und 1938-1939 brachte ihn in engen Kontakt zur Zentralverwaltung der Universität.

Die Weltwirtschaftskrise führte dazu, daß in Europa die extremen politischen Bewegungen verstärkten Zulauf hatten. Hitler wurde 1933 deutscher Reichskanzler. Nevanlinna war bis zum Jahre 1943 der Meinung, daß Hitler in der deutschen Geschichte mit Friedrich dem Großen und Bismarck verglichen werden kann - eine Meinung, mit der er keineswegs alleine stand. Zur positiven Einstellung Nevanlinnas gegenüber dem Nationalsozialismus hat seine Furcht vor der Sowjetunion und vor dem Kommunismus beigetragen, aber seine Gefühle zu Nazideutschland waren nicht nur durch diese Überlegungen bestimmt. Er und andere Familienangehörige betrachteten die Sache Nazideutschlands als ihre eigene Sache. Deutschland war das Mutterland Nevanlinnas (seine Mutter war Deutsche) und es gab enge familiäre Beziehungen zu den Verwandten mütterlicherseits. Das trug zur ausgeprägten deutschfreundlichen Gesinnung Nevanlinnas im allgemeinen, aber auch zu seiner nazifreundlichen Gesinnung im besonderen bei, die er in einer Reihe von Reden und Veröffentlichungen zum Ausdruck brachte. Nevanlinna war jedoch nie Mitglied einer nationalsozialistischen Partei und er hat keine antisemitischen Positionen bezogen, was später übrigens auch von André Weil bestätigt wurde.

Die durch den Nationalsozialismus eingeleitete Katastrophe war auch in Finnland von den meisten erst später erkannt worden. Der überwiegende Teil der eigensinnigen und störrischen Finnen hat sich jedoch vom nationalsozialistischen Gedankengut von Anfang an nicht anstecken lassen. Die Liste der prominenten finnischen Nazis oder pro-Nazis ist ziemlich kurz und enthält außer Rolf Nevanlinna nur ein knappes Dutzend weiterer Berühmtheiten. Lehto erwähnt, daß Hermann Weyl in einem Interview im Jahre 1934 in den USA die Meinung geäußert hat, Nevanlinna sei ein finnischer Nazi (S. 138).

Nachdem Weyl 1933 aus Göttingen in die USA emigrierte, wurde Helmut Hasse, der mit den Nazis sympathisierte, Direktor des mathematischen Institutes. Innerhalb eines Jahres nach der Machtergreifung Hitlers hatte nur noch einer der sechs Göttinger Mathematikprofessoren seine Stelle behalten. Für die freigeschaufelten Stellen suchte Hasse nach systemquasikonformen Spitzenmathematikern und sein Blick fiel dabei auch auf ,,politisch zuverlässige Ausländer'', wie z.B. L.E.J. Brouwer (1881-1966) und Nevanlinna. In der Nazihierarchie war die Abklärung der diesbezüglichen politischen Zuverlässigkeit immerhin so hoch angesiedelt, daß sich sogar Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, mit dem ,,Fall Nevanlinna'' befaßte und sich in einem vom Januar 1936 datierten Gutachten vorbehaltslos positiv äußerte. Nevanlinna war 1936/37 Gastprofessor in Göttingen, wo der 23-jährige Oswald Teichmüller seine Vorlesungen hörte. Als fanatischer Nazi meldete sich der geniale Teichmüller später freiwillig an die Ostfront, wo er 1943 in der Ukraine fiel. Über das persönliche Verhältnis zwischen Nevanlinna und Teichmüller scheint nichts bekannt zu sein. Merkwürdigerweise verliert Nevanlinna auch in seinen Erinnerungen [Muisteltua, Otava, Helsinki 1976] kein einziges Wort über Teichmüller. Es war das Verdienst von Ahlfors, daß Teichmüllers Theorie nach dem Krieg auf weltweites Interesse stieß.

Mit Nevanlinna befaßten sich auch andere Einrichtungen des Dritten Reiches: während des Krieges legte die deutsche Luftwaffe ein Geheimarchiv mit Beurteilungen bedeutender finnischer Persönlichkeiten an. In diesem Verzeichnis wurden mehrere Personen aufgelistet und charakterisiert, die zum Gesellschaftskreis Nevanlinnas gehörten. In der über Nevanlinna verfaßten Einschätzung heißt es, daß er als Fürsprecher der Interessen Deutschlands ein wertvoller und lohnender Kontakt sei (S. 118). Die Namensliste und die Einschätzungen wurden 1996 in einem finnischen Wochenblatt veröffentlicht.

Kapitel VII: Die Zeit der Kriege. Am 23.8.1939 wurde der Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland (Ribbentrop-Molotow-Vertrag) unterzeichnet. In dem berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll wurden die beiderseitigen Einflußsphären in Osteuropa abgesteckt, die zur vierten Teilung Polens führten; der Sowjetunion wurden die Baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) und Finnland als Interessengebiete zuerkannt. Deutschland überfiel Polen am 1. September 1939, zwei Tage später erklärten Frankreich und England Deutschland den Krieg. Die Sowjetunion besetzte die östliche Hälfte Polens und lud die baltischen Staaten zu ,,Verhandlungen'' ein, in deren Folge das Baltikum annektiert wurde. Im Oktober 1939 erging eine ähnliche ,,Einladung'' zu Verhandlungen auch an Finnland, das seine Unabhängigkeit bedroht sah. Nach der Ablehnung der sowjetischen Forderungen griff die UdSSR am 30. November 1939 Finnland an. Der sogenannte Winterkrieg begann, der am 13. März 1940 mit dem Waffenstillstandsabkommen von Moskau endete. Finnland trat die karelische Landenge, Teile Ostkareliens und weitere Landesgebiete an die Sowjetunion ab.

Von Finnland aus gesehen kann man für die Zeit 1939-45 vier Phasen ausmachen, die das Verhältnis zu Deutschland charakterisierten:

  1. Während des Winterkrieges stand Deutschland an der Seite der Sowjetunion und war somit ein Gegner Finnlands. Diese Tatsache äusserte sich konkret u.a. darin, daß Deutschland in Ausführung des Nichtangriffspaktes finnische Schiffe beschlagnahmte, finnische Seeleute internierte, Lieferungen nach Finnland verhinderte usw.

  2. Als Nazideutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfiel, griff die Wehrmacht auch von Finnland aus die UdSSR an. Ab 26. Juni 1941 beteiligte sich Finnland direkt an den Kampfhandlungen. Deutschland (und Finnland) eilten zunächst von Sieg zu Sieg. Mit Hilfe Deutschlands eroberte Finnland die an die Sowjetunion verlorenen Gebiete zurück.

  3. Als sich nach der deutschen Niederlage in Stalingrad allmählich abzuzeichnen begann, daß Deutschland den Krieg verlieren wird, war die finnische Regierung in einem Balanceakt bestrebt, den Schaden zu minimieren. Die offiziellen Kontakte zu Deutschland wurden abgebrochen und im Spätsommer 1944 wurden Friedensverhandlungen mit der Sowjetunion aufgenommen. Am 4. September 1944 wurde das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Sowjetunion und Finnland unterzeichnet. Dieser Sonderfrieden war möglich geworden, weil einerseits Finnland (unter Beteiligung der deutschen Luftwaffe) militärische Teilerfolge gegen die Rote Armee erzielt hatte. Andererseits bestand für Stalin das wichigste Ziel darin, Berlin vor den westlichen Alliierten zu erreichen. Im Ergebnis des Krieges und der Friedensverhandlungen fielen die von Finnland zurückeroberten Gebiete wieder an die Sowjetunion.

  4. Finnland und Deutschland waren jetzt wieder Gegner geworden und es kam zum sogenannten Lapplandkrieg (15.9.1944-25.4.1945), in dem Finnland - auch unter dem Druck der Alliierten - gegen die im Norden des Landes operierenden deutschen Truppen kämpfte. Dieser Kampf gewann in dem Maße Entschlußkraft, wie die deutschen Einheiten auf ihrem Rückzug mit der Taktik der verbrannten Erde ganze finnische Ortschaften zerstörten.

Der Ribbentrop-Molotow-Pakt war für Nevanlinna ein Schock. Er war der Meinung, daß Deutschland von der Freundschaft Finnlands überzeugt werden muß. Er wollte Finnland dienen, indem er öffentlich seine Sympathien für Nazideutschland bekundete. In dem 1939 gegründeten rechtsextremistischen Blatt Kustaa Vaasa [Gustav Wasa] veröffentlichte Nevanlinna Lobpreisungen des ,,neuen Deutschlands'': in Nr. 8 (1942) erschien beispielsweise sein Artikel Der Kampf Deutschlands für die europäische Kultur [Saksan kamppailu eurooppalaisen kulttuurin puolesta]. In seiner Haltung offenbarte sich wohl vor allem die tiefe Überzeugung, daß eine enge Bindung an Deutschland für Finnland nur vorteilhaft sein kann.

Als Rektor der Universität Helsinki in der Zeit 1941-44 war Nevanlinna bestrebt, den Wissenschaftsbetrieb trotz der Kampfhandlungen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Das war nicht einfach, da ein Großteil der Männer aktiv am Krieg teilnahm. Zum anderen zerstörten sowjetische Bomben in Helsinki auch Universitätsgebäude, was den Universitätsbetrieb zusätzlich erschwerte. Nevanlinna selbst bearbeitete übrigens in dieser Zeit für die finnische Armee ballistische Probleme und erhielt für seine Ergebnisse eine Auszeichnung, das Freiheitskreuz 2. Klasse; jedoch wurde ihm nie ein militärischer Rang verliehen. Aufgrund der politischen Sympathien Nevanlinnas ging das finnische Hauptquartier wohl eher auf Distanz zu ihm.

Als sowohl in Finnland wie auch in Deutschland der Gedanke aufkam, ein finnisches Freiwilligenbataillon zu gründen, begrüßte Nevanlinna diese Idee und stimmte der Entsendung von Freiwilligen vorbehaltlos zu. Auf Forderung Himmlers entstand ein SS-Bataillon und Nevanlinna wurde im Sommer 1942 sogar Vorsitzender des SS-Freiwilligenkomitees dieses Bataillons! Die Größenordnung des finnischen SS-Bataillons belief sich auf 1200 Mann (zum Vergleich: Dänemark stellte 6000 Freiwillige, Norwegen knapp 5000). Der Vertrag des finnischen Bataillons lief bis 1943 und im April 1943 wurde Nevanlinna im Auftrag des finnischen Außenministers nach Berlin geschickt, um über die Zukunft des Bataillons zu verhandeln. Im Ergebnis wurde das finnische Bataillon zunächst nach Finnland zurückgerufen und später auf Vorschlag Mannerheims aufgelöst [C.G.E. Mannerheim (1867-1951), finnischer Marschall und Politiker; finnischer Staatspräsident 1944-1946]. SS-General Felix Steiner, der Chef des finnischen Bataillons und frühere Kommandeur der Wiking-Division gab sich bei der Rückkehr des Bataillons in einer Rede überzeugt davon, daß Deutschland den Krieg trotz einiger Rückschläge gewinnen werde und schilderte Nevanlinna als unbedingten Freund Deutschlands und Verehrer Hitlers, als jemanden, der die Außenpolitik Deutschlands und die deutschen Pläne für ein neues Europa verstehe.

1943 gelangte die neue finnische Regierung wohl endgültig zu der Überzeugung, daß Deutschland den Krieg nicht gewinnen wird und daß Finnland aus dem Bündnis mit Deutschland herausgelöst werden muß. Im Gegensatz zu anderen scheint Nevanlinna nicht zu dem Schluß gekommen zu sein, daß eine enge Bindung an Deutschland nicht unbedingt zu Vorteilen für Finnland führen muß. Nevanlinna hat offenbar auch nach dem Krieg offiziell keinerlei Einsicht gezeigt, auch wenn ihm vielleicht privat nachträglich Zweifel gekommen sind. Lehto erinnert sich, daß Nevanlinna bei einem gemeinsamen Berlin-Besuch 1960 gesagt hat, daß der Nationalsozialismus eine unzivilisierte Bewegung gewesen sei. Ansonsten hat sich Nevanlinna dem Autor des Buches, einem seiner engsten Mitarbeiter gegenüber, nie über seine damaligen politischen Ansichten geäußert (S. 178-179). Ins Reich der Spekulationen gehört wohl die hypothetische Frage, die Lehto an einer Stelle (S. 90) aufwirft: die Frage nämlich, ob ein früherer (d.h. vor dem Zweiten Weltkrieg erfolgter) Aufenthalt Nevanlinnas in England oder Amerika dazu beigetragen hätte, seine politische Meinungsbildung in einer anderen Richtung zu beeinflussen.

Kapitel VIII: Das Leben ändert sich. Nevanlinna wurde für die Zeit 1944-47 erneut zum Rektor der Universität Helsinki gewählt. Nach Kriegsende wurde er zur Anhörung vor den Bildungsausschuß des Parlaments geladen, wo es zu Auseinandersetzungen kam. Die Sache mit dem finnischen SS-Bataillon kam auf den Tisch und insbesondere - aber nicht nur - die Kommunisten begannen, die Ablösung Nevanlinnas als Rektor zu fordern: Personen wie er seien aus politischen Gründen ungeeignet. Es kam zu einer Interpellation im Parlament und Paasikivi [J.K. Paasikivi (1870-1956), 1945 Ministerpräsident, 1946-1956 Staatspräsident Finnlands] unterbreitete den Antrag der Regierung, daß sich Personen, die eine falsche militärpolitische Richtung vertreten hatten und in führenden staatlichen Positionen - einschließlich höheren Bildungseinrichtungen - tätig sind, freiwillig zurückziehen sollten. Ausdrücklich war auch Urho Kekkonen [U.K. Kekkonen (1900-1986), finnischer Staatspräsident 1956-1982], der damalige Justizminister, der Meinung, Nevanlinna solle von seinem Rektorenamt zurücktreten, was er dann im Herbst 1945 auch tat.

Mit Kriegsende war für Nevanlinna eine Welt zusammengebrochen. Nach dem Verlust offizieller Aufgaben kehrte er zur Mathematik zurück, aber zu einem neuen Gebiet und in einer veränderten internationalen Forschungsumgebung. Ahlfors, der inzwischen Professor an der Universität Zürich geworden war, kündigte im Frühjahr 1946 an, in die USA zu gehen. Nevanlinna nahm die ihm angebotene freigewordene Stelle an, aber der Umzug nach Zürich war ein Weg mit Hindernissen - vor allem auch aus den bereits genannten politischen Gründen. Nicht nur in Finnland, sondern auch in der Kantonsverwaltung Zürich wurde die Frage nach der politischen Tätigkeit Nevanlinnas während des Krieges aufgeworfen. Auch die Beschaffung eines Reisepasses und der Geldumtausch erwiesen sich zunächst als Problem. Den Reisepaß erhielt Nevanlinna nach einigem Hin-und-Her. Wegen des Geldes wandte er sich an Kekkonen, der inzwischen Direktor der Finnischen Zentralbank geworden war. Kekkonen verhielt sich schroff und verwies auf die schwierige Wirtschaftslage. Offensichtlich war er gegen die Ausreise Nevanlinnas in die Schweiz. Das Problem löste sich jedoch, da Zürich einen Gehaltsvorschuß für die Reise- und Umzugskosten zur Verfügung stellte.

Die Mitglieder der neuzugründenden Akademie Finnlands (Suomen Akatemia) sollten Weihnachten 1947 berufen werden. Natürlich stand Nevanlinna ganz oben auf der Liste und erneut formierte sich Widerstand gegen ihn. Insbesondere war auch wieder Kekkonen gegen den Vorschlag und veröffentlichte 1948 einen Artikel in der Wochenzeitung Suomen Kuvalehti mit dem Vorwurf, daß Nevanlinna eine politische Ideologie vertreten habe, die den demokratischen Freiheiten zuwiderlief. Es ist wohl in erster Linie der Fürsprache Paasikivis und der Abwesenheit einflußreicher Regierungsmitglieder zu verdanken, daß Nevanlinna dennoch zum Mitglied der Akademie berufen wurde. Paasikivi sprach sich dafür aus, daß bei der Berufung politische Gründe keine Rolle spielen dürften. In Paasikivis Tagebüchern findet sich eine Eintragung, gemäß der er folgendes gesagt hat: ,,Nevanlinna willigte in die Bitte der Regierung, das heißt des Außenministers ein, als er sich mit der Sache des finnischen SS-Bataillons befaßte. Er befürwortete - ebenso wie 99% des finnischen Volkes - die damalige Politik des Staates'' (S. 211). Nachdem sich Nevanlinna für einen Verbleib in Zürich entschieden hatte und zunächst auch nicht Mitglied der Akademie werden wollte, ließ er sich dann doch eines besseren belehren. Von 1948 bis 1963 hatte er zwei Arbeitsplätze: die Akademie Finnlands und die Universität Zürich.

Kapitel IX: Internationale Autorität. Die Finnen, wie sie in der Schweiz hießen (damit waren Ahlfors und Nevanlinna gemeint), brachten frischen Nordwind nach Zürich. Nevanlinna verstand es, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu begeistern und kümmerte sich hingebungsvoll um ihn. Forschung im Elfenbeinturm war nicht Nevanlinnas Fall: er hielt den Kontakt zu seinen Studenten und Schülern für eine Aufgabe von erstrangiger Wichtigkeit. Als glänzender Vortragender mit einem ausgeprägten pädagogischen Sinn war er in seinem ganzen Leben von dem Wunsch beseelt, anderen sein Wissen zu vermitteln und seine Schüler für die Gedankenwelt der Mathematik zu begeistern. Er wußte, daß er ein ausgezeichneter Lehrer war, und er besaß die Fähigkeit, Talente zu entdecken. Aber auch nach dem Krieg beschränkte sich seine Tätigkeit nicht auf Lehre und Forschung. Er war in der Schweiz gewissermaßen als ,,Kulturbotschafter'' Finnlands aktiv und engagierte sich in der 1946 gegründeten Vereinigung der Freunde Finnlands. 1953 wurde er das erste Ehrenmitglied dieser Vereinigung. Ein großes Verdienst Nevanlinnas ist seine einzigartige Rolle als Katalysator der mathematischen Beziehungen zwischen Finnland und der Schweiz in den Nachkriegsjahren, wodurch er einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der geografischen Isolation Finnlands leistete. Auf Initiative Nevanlinnas kamen zahlreiche finnische Mathematiker nach Zürich, aber die ,,Nevanlinna-Connection'' funktionierte auch in umgekehrter Richtung. So verbrachten fast alle Schweizer Schüler von Nevanlinna auf dessen Einladung ihren Urlaub auf seinen Sommersitzen in Finnland. Als Nevanlinna 1963 nach Finnland zurückkehrte, wurden auf Initiative von Freunden und Schülern die finnisch-schweizerischen Rolf-Nevanlinna-Kolloquien ins Leben gerufen.

Nevanlinna paßte sich der neuen politischen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg an, unterstützte jedoch nicht vorbehaltlos die Paasikivi-Linie, die später von Kekkonen fortgeführt wurde. Dennoch unterschied er sich in seinem Verhältnis zur Sowjetunion grundlegend von einigen anderen Persönlichkeiten Finnlands, die mit der UdSSR nichts zu tun haben wollten. Nevanlinna handelte nach der Devise, daß Mathematik keine Grenzen kennt, und strebte nach Kontakten zu den sowjetischen Kollegen, um deren Isolation zu durchbrechen. Auf Initiative Nevanlinnas fand 1957 ein internationales Funktionentheorie-Kolloquium in Helsinki statt, an dem auch sowjetische Kollegen teilnahmen. 1963 besuchte er erstmalig die Sowjetunion (Moskau, Tbilissi), aber schon vor diesem Zeitpunkt war deutlich geworden, daß seine politischen Aktivitäten in den Kriegsjahren keine Belastung für seine mathematischen Ostkontakte darstellten. Insbesondere war Nevanlinna inzwischen auch von den offiziellen Organen der Sowjetunion voll und ganz akzeptiert worden.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg neugegründete IMU wählte Nevanlinna für den Vierjahreszeitraum 1959-1962 fast einstimmig zu ihrem Präsidenten und es war klar, daß auch der Ostblock für ihn gestimmt hatte. Nevanlinnas Tätigkeit gipfelte darin, daß er auch zum Präsidenten des ICM 1962 gewählt wurde und den Kongreß in Stockholm eröffnete. Bis zu diesem Zeitpunkt war es immer selbstverständlich, daß ein Vertreter des gastgebenden Landes diese Ehre erhielt, aber dieses Mal machte man eine Ausnahme. In seiner Eröffnungsrede auf dem ICM in Stockholm behandelte Nevanlinna das Problem der Wechselwirkung zwischen Spezialisierung und Synthese in der Forschung. Auf dieses Problem, das ihn seit den 30-er Jahren bewegte, ist er wiederholt in Vorträgen eingegangen. Nevanlinna wurde nach dem Stockholmer Kongreß zum Vorsitzenden des Programmkomitees für den ICM Moskau 1966 gewählt und erwarb sich in dieser Eigenschaft weitere Verdienste in seiner Mittlerrolle zwischen Ost und West.

Kapitel X: Vielseitiges Akademiemitglied. 1954 kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Nevanlinna und Kekkonen, der früher keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Nevanlinna wegen dessen Nazifreundlichkeit zu kritisieren. Kekkonen lud Nevanlinna zum Mittagessen in ein Hotel ein, entschuldigte sich dort angeblich für sein Verhalten und führte als Grund an, daß er Nevanlinna für einen politischen Konkurrenten gehalten habe (S. 240). Wie auch immer dieses persönliche Gespräch verlaufen sein mag, es erscheint unwahrscheinlich, daß sich ein professioneller Politiker für seine Handlungsweisen bei einem Privatmann entschuldigt.

1948 wurde zwischen der Sowjetunion und Finnland der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand unterzeichnet, der für Nevanlinna als ,,Verbeugung vor dem Osten'' zu weit ging. Nach der Intervention der Sowjetunion 1956 in Ungarn kritisierte er die offizielle Haltung Finnlands, das in der UNO nicht für den Abzug der sowjetischen Truppen gestimmt hatte. Nevanlinna wandte sich diesbezüglich an finnische Wissenschaftler, Künstler und Politiker. Ein früherer Ministerpräsident riet jedoch zur Zurückhaltung bei der Kritik der außenpolitischen Entscheidung der finnischen Regierung. Auch andere Adressaten meinten, daß sich die Lage Finnlands aus der Perspektive der fernen Schweizer Alpen anders darstellt, als es in Wirklichkeit der Fall war und daß die Paasikivi-Linie beibehalten werden muß.

Nevanlinna wandte sich nach dem Krieg verstärkt der mathematischen Physik zu, konnte aber von seiner alten Liebe, der Funktionentheorie, nicht ganz loskommen. Auf Einladung des Springer-Verlages schrieb er das Buch Uniformisierung, das 1953 erschien. Es hat aber - so Lehto - den Anschein, daß Nevanlinna dieses Buch mit einigem Widerwillen geschrieben hat: er war wohl des Themas inzwischen überdrüssig geworden und ist tatsächlich nie wieder darauf zurückgekommen.

Ab Mitte der 50-er Jahre wurde die Entwicklung der absoluten Analysis zum zentralen Thema seiner Mathematik. Zusammen mit Bruder Frithiof verfaßte Rolf Nevanlinna die Monografie Absolute Analysis, die 1959 in deutscher Sprache bei Springer und 1973 in englischer Übersetzung erschien. Bei der Arbeit an diesem Werk betrachtete sich Frithiof als Baumeister, der den Gedanken von Rolf den letzten Schliff gab. Die Ideen und großen Züge stammten von Rolf. Frithiof war ein ebenso ,,fanatischer'' Mathematiker wie Rolf, erkannte aber dessen Überlegenheit an. Das geringe Echo auf das Buch war eine ziemliche Enttäuschung: Lehto hörte aus Gesprächen mit ausländischen Kollegen heraus, wie schwer der große Ruf auf Nevanlinna lastete - dieser Ruf ging mit der Erwartung einher, daß Nevanlinna immer etwas Neues und Besseres bringen müsse.

In den 17 Jahren seiner Tätigkeit als Mitglied der Akademie Finnlands hatte Nevanlinna vier Forschungsassistenten: Leo Sario, K.I. Virtanen, Olli Lehto und Ilppo Simo Louhivaara. Die Wahl von Sario zum ersten Assistenten hängt damit zusammen, daß die Gründung der Akademie Finnlands der verdienstvollen Tätigkeit Sarios zu verdanken war. Sario schrieb seine Dissertation über Riemannsche Flächen unter der Anleitung Nevanlinnas. Später kam es zu Querelen, als Nevanlinna von Sario des Plagiats bezichtigt wurde. Sario ging nach Amerika und wurde Professor an der University of California in Los Angeles. Es kam zur Aussöhnung mit Nevanlinna, den Sario 1961 für einige Monate als Gastprofessor nach Los Angeles eingeladen hatte. Über der geplanten Zusammenarbeit an einer englischen Neufassung des 1929 erschienen französischsprachigen Buches von Nevanlinna kam es jedoch zu einem erneuten Zerwürfnis und zum Abbruch der Zusammenarbeit. Sario verlor die Fassung, schrieb einen unschönen Brief an Nevanlinna und verteilte Kopien dieses (in englischer Sprache verfaßten) Briefes an zahlreiche Adressaten. Der wahre Grund für die Schwierigkeiten lag laut Lehto von Anfang an darin, daß Nevanlinna kein Vertrauen zu Sario als Mathematiker hatte (S. 250). Sario kündigte den Vertrag mit dem Herausgeber und schilderte diesem und anderen gegenüber Nevanlinna als Intriganten. Ein endgültiger Abbruch der persönlichen Beziehungen zwischen beiden war unvermeidlich.

Nevanlinna erkannte frühzeitig die Bedeutung der Computer und entwickelte zusammen mit anderen bereits Anfang der 50-er Jahre Aktivitäten zum Einsatz von Rechnern an finnischen Universitäten. Nicht zuletzt aus diesen Aktivitäten heraus erklärt sich der Name des Preises, der seit 1983 auf den ICM für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der theoretischen Informatik verliehen wird (,,The Rolf Nevanlinna Prize''). Nevanlinna hatte auch Einfluß auf die Entwicklung der theoretischen Physik in Finnland in den 50-er Jahren. Zwar hat er auf diesem Gebiet keine Forschungsarbeiten veröffentlicht, aber seit seiner bereits genannten frühzeitigen Stellungnahme für die Relativitätstheorie bekundete er ein stetes Interesse für Teilgebiete der theoretischen Physik und behandelte diese auch in der Lehre. Insbesondere beschäftigten ihn Probleme, die mit der Verschmelzung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zusammenhängen. Eine wichtige Rolle spielte Nevanlinna bei der Gründung des finnischen Forschungsinstitutes für theoretische Physik. In diesem Institut hielt er im Frühjahrssemester 1979 als 83-jähriger seine letzte Vortragsreihe, in der er auf die Grundlagen der Physik einging.

Kapitel XI: Aktive Altersjahre. Im Herbst 1963 trat Nevanlinna von seiner Professur in Zürich zurück und kehrte endgültig heim nach Finnland. Die Übersiedlung in die Schweiz im Jahre 1946 bedeutete für ihn die Rückkehr zur Mathematik nach dem durch den Krieg verursachten Bruch. Die Heimkehr nach Finnland war ein erneuter Wendepunkt, der für Nevanlinna so viele öffentliche Aufgaben mit sich brachte, daß die Mathematik mehr und mehr in den Hintergrund geriet. Er trat als Redner bei Kulturveranstaltungen und als Musiksachverständiger auf, hielt Vorträge im Radio und schrieb Zeitungsartikel zu kulturellen Fragen. Der ICM Helsinki 1978 war die Sternstunde des 82-jährigen Nevanlinna. Dort überreichte er die Fields-Medaillen, was ursprünglich Präsident Kekkonen tun sollte. Kekkonen sagte jedoch kurzfristig ab und es hieß, er sei in den Urlaub gefahren und ginge dort dem Hobby des Fischfangs nach. Der wahre Grund für das demonstrative Fernbleiben Kekkonens lag aber vermutlich darin, daß der sowjetische Preisträger Margulis nicht aus der Sowjetunion ausreisen durfte.

Im Alter von knapp 75 Jahren erlitt Nevanlinna eine Lungenembolie, wenig später einen Herzanfall. Doch er erholte sich rasch und setzte seine aktive Tätigkeit fort. Die Feiern zu seinem 80. Geburtstag wurden in Helsinki und Zürich begangen. Präsident Kekkonen verlieh ihm das Große Kreuz des Ritterordens der Weißen Rose Finnlands. Das war ein sichtbares Zeichen dessen, wie sehr sich Kekkonen in seinem Verhältnis zu Nevanlinna geändert hatte. Nevanlinna starb am 28. Mai 1980.

Das lesenswerte Buch enthält eine Fülle von Details und auch eine Reihe von anekdotenreifen Stories. Beispielsweise eskalierte eine Diskussion über Sibelius zu einem Handgemenge zwischen Nevanlinna und dem Komponisten Yrjö Kilpinen (1892-1959). Kilpinen hatte bei einem feuchtfröhlichen Zusammensein die Musik von Sibelius und den Komponisten so lange kritisiert, bis Nevanlinna die Selbstbeherrschung verlor. Die Auseinandersetzung hätte zu einer handfesten Prügelei werden können, wenn die beiden ,,Diskussionspartner'' nicht von den anderen Anwesenden getrennt worden wären. Aber auch auf abstrakterer Ebene hat Nevanlinna den von ihm verehrten Sibelius - ebenso wie die Mathematik - stets leidenschaftlich gegen Ketzer jeder Art verteidigt.

Das Buch endet mit einer Aufzählung der Ehrungen (Mitgliedschaften in Akademien, Ehrenmitgliedschaften, Ehrendoktorwürden, Preise, Orden und Ehrenzeichen) und einer Angabe des Quellenmaterials (Bücher und Presseerzeugnisse, Archive und private Quellen).

Manfred Stern (Halle a.d. Saale)


Publication date: 20 May 2003 © 1997--2003 ELibM and FIZ Karlsruhe / Zentralblatt MATH